Lecture-Performance - 14.06.2025 (German) Theater aus China: Werkstattgespräch zum Heidelberger Stückemarkt

Den Abschluss der Veranstaltung Theater aus China: Werkstattgespräch zum Heidelberger Stückemarkt bildete eine auf dem Dokumentarroman Großer Fluss, Große See – Unerzählte Geschichten von 1949 (大江大海 一九四九) von Lung Ying-Tai basierende Lecture-Performance der in Berlin ansässigen chinesischen Regisseurin Cao Kefei und der taiwanesischen Künstlerin und Theatermacherin Yi-Jou Chuang.
Lung Ying-Tai – Enfant terrible und wichtige Stimme der sinophonen Öffentlichkeit
Die Autorin von Großer Fluss, Große See – Unerzählte Geschichten von 1949, Lung Ying-Tai, stammt aus einer Familie von Festlandchinesen, die nach dem Ende des chinesischen Bürgerkriegs nach Taiwan fliehen mussten. Sie begann ihre akademische Laufbahn in Taiwan, promovierte in den USA und lebte später auch einige Zeit in Kronberg im Taunus. Nach ihren verschiedenen Auslandsaufenthalten kehrte sie schließlich nach Taiwan zurück, wo sie von 2012 bis 2014 die erste Kulturministerin des Landes war.
Sie gilt bis heute als eine der bedeutendsten Stimmen in der sinophonen Welt – obwohl ihre Werke, von denen einige 1989 bei den Protesten auf dem Tiananmen-Platz in Peking gelesen wurden, mittlerweile in der Volksrepublik China der Zensur unterliegen. Lungs Kulturkritik zeichnet sich dadurch aus, dass sie die Bürger in ihren Texten dazu aufruft, sich gegen Unrecht zur Wehr zu setzen. Ihre kulturkritischen Texte hatten großen Einfluss auf den einsetzenden Demokratisierungsprozess in Taiwan, das noch bis 1988 diktatorisch und unter Kriegsrecht regiert wurde. Neben dem Anprangern der Missstände in Taiwan kritisierte sie jedoch auch Zustände auf dem chinesischen Festland, wie z. B. im Jahr 2006, als sie mit ihrem Essay Wo ist eure Wut, Mitbürger? den damaligen chinesischen Präsidenten Hu Jintao wegen der Schließung des Magazins Gefrierpunkt angriff.
Großer Fluss, Große See – Unerzählte Geschichten von 1949 - Verbindung von Privatem mit Öffentlichem
In ihrem Dokumentarroman schildert Lung Ying-Tai 60 Jahre nach dessen Ende die Geschichte des chinesischen Bürgerkriegs zwischen der Nationalen Volkspartei (Kuomintang) und der Kommunistischen Partei Chinas. Trotz Zensur war der Roman über zehn Jahre lang ein Bestseller in allen Teilen Chinas. Der chinesische Bürgerkrieg forderte ca. 10 Millionen Opfer und führte zu einem Massenexodus über die Taiwanstraße, die sich analog zur Berliner Mauer in eine ideologische Grenze verwandelte. Mit dem Roman regt Lung Ying-Tai einen Dialog über die paradoxe Beziehung zwischen der zunehmend feindseligen Gegenwart und der kulturell verflochtenen Vergangenheit Taiwans und der Volksrepublik China an, mit dem Ziel, neue Möglichkeiten für eine friedliche Koexistenz auszuloten.
„Der Roman setzt tiefsitzende Wunden frei“
Laut Cao Kefei setzt der Roman „tiefsitzende Wunden“ frei. In acht Kapiteln gewährt er Einblicke in individuelle und kollektive Erfahrungen vom Ende des Zweiten Weltkriegs und der japanischen Besatzung bis zum Jahr 1949, dem letzten Jahr des chinesischen Bürgerkriegs. Die Kapitel erzählen die persönlichen Geschichten einfacher Menschen über Leid, Vertreibung und Flucht in dieser Zeit. Diese Stimmen, die in offiziellen Geschichtserzählungen oft überhört werden, zeigen ein vielschichtiges Bild des Krieges. Indem Lung Ying-Tai sich für die mikroskopischen Perspektiven der einfachen Leute entscheidet, die weniger propagandistisch sind, erweitert sie den Fokus: Ihr Werk wird somit nicht nur zum Bericht über den chinesischen Bürgerkrieg, sondern zu einem globalen Roman über Menschen in Kriegssituationen.
Nicht die Geschichte eines bestimmten Krieges, sondern die Geschichte aller Kriege
Die gewählte Erzählperspektive überwindet ideologische Barrieren und gibt Lebens- und Todesgeschichten von Vertriebenen Raum, wodurch der Roman einen Beitrag zur chinesisch-taiwanesischen Erinnerungskultur leistet und helfen soll, die Wiederholung solcher Tragödien zu verhindern. Ziel ist es, die Geschichten der Zeitzeugen lebendig zu halten und dem Vergessen entgegenzuwirken. Für Lung Ying-Tai ist Zuhören der erste Schritt zu globalem Denken, weshalb sie mit ihrem Roman dazu aufrufen möchte, auch die Wunden der Gegenseite zu erkennen, deren Geschichten zu hören, Dämonisierung zu vermeiden und Versöhnung und Toleranz zu ermöglichen, was dem Werk angesichts heutiger internationaler Konflikte besondere Aktualität verleiht.
Lecture-Performance von Cao Kefei und Yi-Jou Chuang
Die Lecture-Performance stellte eine Vorschau auf ein Inszenierungsprojekt zu Großer Fluss, Große See – Unerzählte Geschichten von 1949 dar, das Cao Kefei aktuell vorbereitet. Die vollständige Aufführung wird eine multimediale Text-Ton-Film-Installations-Performance, die individuelle Erzählungen mit historischen Ereignissen, Live-Präsenz und Videoproduktionen verwebt. Vier Darsteller unterschiedlicher Generationen aus Taiwan und dem chinesischen Festland sollen darin auf Mandarin, Englisch und Deutsch interagieren, um komplexe Identitäten und Konflikte jenseits traditioneller chinesischer Theaterformen darzustellen. Kefei erklärte, ihr Ziel sei es, durch vielfältige Erzählperspektiven sowie visuelle und auditive Elemente das Publikum durch die zentralen Momente des Romans zu führen und so „ideologische Barrieren zu überwinden und den Lebens- und Todesgeschichten von Vertriebenen und ihren Traumata Gehör zu verschaffen“. Die Inszenierung soll einen Dialog über das paradoxe Verhältnis zwischen der feindseligen Gegenwart und der kulturell verflochtenen Vergangenheit beider Seiten der Taiwanstraße anstoßen und neue Wege für eine friedliche Koexistenz zu eröffnen.
Persönliche Einblicke
Im Rahmen der Lecture-Performance berichteten Cao Kefei und Yi-Jou Chuang, die sich selbst zum ersten Mal persönlich sahen, anhand persönlicher Anekdoten über ihre Beziehungen zu den Romankapiteln, der Beziehung zwischen Taiwan und der VR China, zu ihrem eigenen Nationalitätsverhältnis und zu den Nachwirkungen des Bürgerkrieges auf ihr eigenes Leben.
Aus ihrer Schulzeit in China erzählte Cao Kefei, dass in den dortigen Schulbüchern der Sieg der kommunistischen Armee als „Befreiung“ gefeiert wurde und dass in ihnen auch über den zukünftigen Sieg gegen den großen Feind auf der anderen Seite der Taiwanstraße geschrieben wurde. Erst in Europa erfuhr sie ein vollständigeres und brutaleres Geschichtsbild über den chinesischen Bürgerkrieg. Dass dieser Teil der Geschichte in Vergessenheit geraten soll, ließ sie seitdem nicht mehr los und inspirierte sie für ihre Arbeit.
Yi-Jou Chuang, die in den 90er Jahren in Taiwan aufwuchs, berichtete, dass erst mit der wachsenden Meinungsfreiheit und Demokratisierung ab 1988 ein Bewusstsein dafür entstand, was verschwiegen oder totgeschwiegen wurde und wie der Bürgerkrieg noch auf ihr Leben nachwirkte. Dazu trug auch die 2016 von der taiwanesischen Regierung gegründete Menschenrechtskommission bei, welche die Geschichten dokumentiert, die früher verboten waren, um diese an die nächsten Generationen weiterzugeben. Aus ihrer Schulzeit erzählte sie, dass in Taiwan China als „verlorene Heimat“ dargestellt wurde, wenngleich Festlandflüchtlinge nur 15 % der Bevölkerung ausmachten und für sie, als alteingesessene Taiwanesin, China keine besondere Bedeutung hatte. Trotzdem wissen viele Einwohner Taiwans aus Schulbüchern viel über die VR China und kennen bspw. die Geographie und Geschichte, teilweise sogar besser als die ihres eigenen Landes, da sehr viele Straßen in Taipeh die Namen chinesischer Städte tragen. Auch wird China im Fach Geschichte ein ganzes Jahr gewidmet.
Über die unerzählte Geschichte von Changchun
Cao Kefei berichtete auch von ihrer persönlichen Reise an den Ort des vierten Romankapitels: die chinesische Stadt Changchun. Diese wurde 1948 von der kommunistischen Armee belagert, mit dem Ziel, sie durch Aushungern und nicht durch Kampfhandlungen von der Armee der Nationalen Volkspartei zu erobern. Auch Zivilisten wurde keine Flucht erlaubt. In der sechsmonatigen Belagerung verhungerten zwischen 100.000 und 650.000 Menschen auf grausame Art und Weise, die danach in Massengräbern außerhalb der Stadt begraben wurden.
Die Geschichte der Belagerung wurde auch von einem Zeitzeuge in seinen Memoiren festgehalten. Darin erinnert er sich an unzählige, vom Regen durchweichte Leichen, deren Körper grün-lila verfärbt waren und die bei Sonnenschein platzten und an den allgegenwärtigen Verwesungsgeruch in der Luft. Nach dem Sieg der Kommunisten hatten die Menschen nicht einmal mehr die Kraft, aufzustehen. Von dem Hof, auf dem seine Familie zusammen mit 13 weiteren Familien lebte, überlebten nur seine Mutter und er. Am ersten Tag der sogenannten Befreiung wurden die verbliebenen Bewohner zum Einsammeln der Leichen aufgerufen. Auch er musste dabei helfen die Toten zu verbrennen und zu begraben. In den 1950er-Jahren wurde an diesem Ort ein neuer Garten angelegt. Doch die Stadt, so der Zeitzeuge, habe sich bis heute nicht von der „Befreiung“ erholt. Seine Memoiren dürfen bis heute nicht veröffentlicht werden.
„Nicht eine Spur von Blut auf dem Schwert“
Bei einer Reise bemerkte die Autorin Lung Ying-Tai, dass diese Geschichte tabuisiert zu sein scheint und nicht erzählt wird, ja sogar verschwiegen wird und in der Stadt nichts an die blutige Episode erinnert. Vielmehr ist die Stadt geprägt von propagandistischen Siegdenkmälern der kommunistischen Partei. 2024 besuchte auch Cao Kefei Changchun und bestätigte diesen Eindruck, dass sie eine von der Geschichte entkoppelte Stadt vorfand. Sie schilderte eine Taxifahrt, bei der ihr der Fahrer erzählte, dass bei Bauarbeiten am Rande der Stadt Tausende Skelette gefunden worden seien, aber niemand wisse, woher sie stammen und man landläufig sagte, dass es dort spuke, man aber nicht wüsste wieso. Auf ihre Frage, ob die Leichen von der Belagerung stammen könnten, verneinte der Fahrer dies und beendete das Gespräch sofort.
Ein Roman gegen das Vergessen
Großer Fluss, Große See ist mehr als ein Dokument über den chinesischen Bürgerkrieg – es ist ein Akt der Erinnerung gegen das institutionalisierte Vergessen. In der Lecture-Performance und der geplanten multimedialen Installation standen die verdrängten Geschichten aus der Vergangenheit im Mittelpunkt und wurden transzendentalere Fragen behandelt, die weit über die historischen Ereignisse und Folgen des Krieges hinausreichen: Was geschieht, wenn man sich erinnert? Wer prägt unsere Narrative? Wie manipuliert Staatsmacht das individuelle Leben? Und schließlich: Wie kann man sich widersetzen, Toleranz entwickeln, Koexistenz fördern und Wiederholung verhindern? Im anschließenden Werkstattgespräch mit dem Publikum diskutierten die Künstlerinnen über den schwierigen Umgang mit diesen historischen Themen in der VR China und Taiwan und den gegenseitigen Austausch.


